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Hauser Kornelia: Bildung und Demokratie

Abstract Momentum 09 Track 9 „Bildung und Demokratie”

„Bildung und Demokratie”

Der Bildungsbegriff ist seit einigen Jahren wieder einöffentlicher brisanter Kampfplatz, auf dem sich antagonistische Interessen bewegen. Konservativ/bürgerlich werden Teile des Humboldtschen Bildungsbegriffs „gerettet“ und für eine überaus überschaubare soziale Schicht bereitgestellt. Liberal wird Bildung als Integrations“mittel“ propagiert, jedoch überwiegend einseitig auf das wollende Individuum abgestellt, ohne umfassende Bildungsreform. Emanzipatorisch zielen Bildungsvorschläge auf die Selbstzweckdimensionen und das Reflexivwerden (“Leben in der dritten Person“ B.Brecht), die Einbettung der Lernverhältnisse, Partizipation der Lernenden, Projektlernen usw. Bildung ist hier häufiger als (zumeist implizite) Anknüpfung an die „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss erkennbar. Ich selbst bewege mich im letzten Diskurs.

Ich möchte in meinem Beitrag aus den soziologisch gut erfassbaren neuen Anforderungen an ein neokapitalistisches Selbst, das zu recht auf den Begriff des „unternehmerischen Selbst“ zu bringen ist, (vgl. z.B. die Forschungsgruppe um Ulrich Bröckling oder Boltanski u. Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus aber auch die neueren Arbeiten von Richard Sennett und Andre Gorz) auf ihren implizten Bildungsbegriff hin untersuchen. Alle Anforderungen sind de-kontexualisiert, werden eher als Vereigenschaftung von Verhältnissen denn als Aneignung, Kompetenz und Haltung gefasst; Entwicklungen die mit einem kritischen Bildungsbegriff unvereinbar sind. Das m.E. Gefährliche an diesen Vergesellschaftungsanforderungen ist ihre Enthistorisierung: sowohl das Individuum erfährt sich nicht biografisch historisch, als auch nimmt es seine Zeit kaum mehr historisch bewusst wahr. Diese Anforderungen werden in Begriffen der vormaligen westlichen Befreiungsbewegungen gefasst, indem Freiheit, Gruppe, Transparenz, Emanzipation, Kreativität, Eigensinn, Flexibilität und Mobilität usw. explizit benannt und in den Kontext der erfolgreichen Selbst-Vermarktung gestellt werden.

Wenn die Frage ins Zentrum gerückt wird, wie die Ideologie beschaffen ist, die das Engagement für den Kapitalismus rechtfertigt, kann die Hypothese lauten, dass für dieöffentlichen Bildungsdebatten- und prozesse ganz unverhohlen Bildung selbst eine Rechtfertigung darstellt und der Ein- und Ausschluß von Bildungsprozessen fehlendes bzw. vorhandenes Engagement mit artikuliert (von daher sind „Schuldzuschreibungen“, die die Lebensführung des sog. Prekariats betreffen so „plausibel“).

Die Trennung von Fremdzweck und Selbstzweck ist dem alten Bildungsbegriff inhärent und wird gerade aufgeweicht bzw. als ununterscheidbar reartikuliert. Diese Zerstörung einer gesellschaftlich vormals gestützten Vorstellung, dass etwas nicht vernutzbar oder verkäuflich ist, sondern jetzt das Leben durch „Biografisierung“ und „Netzwerkaktivitäten“ insgesamt den Märkten anbietbar sein sollte (vgl. die Studie von Barbara Ehrenreich: Qualifiziert und Arbeitslos, auch den fiktionalen Text von Joachim Zelter: Schule der Arbeitslosen) erschwert die Gegenbewegung eines kritischen oder fortschrittlichen Bildungsbegriffs, da Individuen mit den latenten (quasi erzieherischen) Drohungen, dass die Nichterfüllung des Fremdzwecks zum Abstieg bzw. zum Ausschluss führen kann, konfrontiert sind.

Die Begeisterung am Können des Könnens (das zu Bedürfnissen wird), am Ergreifen des Möglichen, an der Möglichkeit der Wirklichkeit wird den Sich-Bildenden zumeist entzogen. Die Bedingung der Möglichkeit – diese alte Frage von Kant – ist gar nicht mehr im Visier. Sie wird ja auch gesellschaftlich als unerkennbar vermittelt, wie Bourdieu zeigte, der den Entzug der Verfügung von Raum und Zeit, als Verunmöglichung der Planbarkeit des eigenen Lebens als wesentlichen Zeichen des Neokapitalismus herausarbeitete. Kant sagte: „Wir begreifen nur, was wir selbst machen können.“

Der Zusammenhang von Leiden und Befreiung (die berühmte Verelendungsthese) ist umstandslos schon länger nicht mehr haltbar, da er kollektive oder gruppenbezogene bewusste Verhältnisse zu den Verhältnissen unterstellte. Das Bewusstsein von Differenz und Leiden setzt nicht die Herauslösung aus der Verstrickung ingang. „Denn auch auf gesellschaftlicher Ebene ist nicht mehr erkennbar, inwiefern gesellschaftliche Widersprüche noch eine produktive Dynamik freisetzen; statt dessen verkümmern sie zu bloßen Gegensätzen, zum Paradox, zur Ungereimtheit, und auch das individuelle Leben führt unter Umständen nur noch immer tiefer in weiteres Leiden hinein.“ (Rosemarie Boenecke).

Die Bildungsforschung umfasst, bezogen auf Biografien, die Erschließung von Lebensentwürfen und Weltentwürfen; darauf bezogen lässt sich: Die Weltentwürfe werden durch die Überforderung neokapitalistischer Anforderungen an Selbst/und Lebensentwürfen marginalisiert. Welt wird konjunktivisch und/oder imaginär wahrgenommen. Das Selbst existiert –quasi auf Dauer gestellt – im Spannungsverhältnis von Nicht-Mehr und Noch- Nicht. Kritische Bildungstheorie versucht mit der Wiederbelebung verschiedener Vernunftarten darauf zu antworten. Bildung wäre demnach ein Wissen, das die Individuen für sich zur Distanzierung der Verhältnisse übersetzten und sich so aus der unmittelbaren Umklammerung der befreien, indem sie die Struktur eines Sachverhaltes standpunktbezogen für sich erwerben und so zu einem selbsttätigen für sich sinnhaften Vernunftbegriff kommen. Der Perspektivwechsel bezieht sich auf die Verlagerung von den so zu verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen zum sich selbst aufklärenden Subjekt. Wir können weniger mit der „richtigen“ Gesellschaftsanalyse und der evtl. daraus folgenden richtigen Politik rechnen, als vielmehr mit den vernunftbegabten phantasiereichen Subjekten, die zur Selbstaufkärung drängen. Der Perspektivwechsel besteht auch darin, statt von einem Leidensstandpunkt vom Erfahrungsstandpunkt auszugehen. Auch hier ist übrigens von den feministischen Sozialwissenschaften viel zu lernen: Das theoretisch gefasste „Opfer“ Frau hat sich in den letzen 20 Jahren zu einem äußerst widersprüchlichen Subjekt entwickelt, dessen Erfahrungen die große Bandbreite der Verarbeitung gesellschaftlicher Erfahrungen wiedergeben.

Kritische Bildungstheorie setzt sich zum Ziel, Erfahrungen des Unentfremdeten zu organisieren, die als Erinnerung den Willen entstehen lassen, Entfremdung auszuhalten und zu bekämpfen: Aufgabe der Erziehung wäre dann: den Menschen die Möglichkeit eines Erfahrungsdepots erfüllten Sinns als Möglichkeit zu organisieren.

Die (Weiter)Entwicklung eines solchen Bildungs-Begriffs und seiner Praxen müsste selbst netzwerkartig geleistet werden (wie zum Beispiel diese Tagung, die die Bildungssubjekte (Lehrende und Studierende) umfasst). In der Form anders aber im Gestus ähnlich wie die „alten sozialen Bewegungen“, die bis Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts Wissen und Kompetenzen erarbeiteten, die der Um/Gestaltung der Gesellschaft dienten.

Es gilt einen Umschwung zu unterstützen und voranzutreiben, der den Erwerb von Bildung an die Gestaltung der Demokratie (inkl. der Demokratisierung der eigenen Lebensführung) bindet (John Dewey: Demokratie als Lebensform (anstelle blosser Regierungsform). D.h. muss auch heraus aus den sog. Klassischen Bildungsinstitutionen und hinein in alle sozialarbeiterischen, pädagogischen und sozialpsychologischen Systeme und Institutionen und Gruppen. Jede Orientierungsarbeit, Beratungsarbeit usw. muss Bildungselemente enthalten, die der Selbstbildung Vorschub leistet. In solchen Konzepten müssten zwei Begriffe, die praktisch konzeptualisiert werden, zentral sein: Erfahrung und Partizipation. Bildung und Grundeinkommen sind so zusammen zu diskutieren; Kommunalisierung von Politik; Organisation gesellschaftlicher Debatten und Konfliktlösungsstrukturen; u.a.m.

Kornelia Hauser


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